Die Kolumne der Präsidentin

Heute möchte ich mich mit einem brandaktuellen Thema der Traumadiagnostik beschäftigen, das in den letzten Jahren zunehmend die Gemüter erregt und fachlich kontrovers diskutiert wird. Ich freue mich über Zuschriften zu diesem hochspannenden Thema.

Was ERPs sichtbar machen

Wenn wir mit queeren Menschen arbeiten, die seelische Verletzungen erlebt haben, begegnen uns oft Wörter wie „Übererregung“, „Erstarrung“, „Reizüberflutung“. Das alles sind gelebte Erfahrungen, fühlbar im Körper, spürbar im Alltag. Ereigniskorrelierte Potentiale – kurz ERPs – erlauben uns, genau diese Verarbeitungsprozesse im Gehirn in Echtzeit mitzulesen. Es sind winzige elektrische Schwankungen, die das EEG aufzeichnet, während jemand eine einfache Aufgabe löst oder Bilder betrachtet. Für mich ist das Faszinierende nicht der „High‑Tech‑Glamour“, sondern die Schlichtheit: kein lauter Scanner, keine invasive Prozedur, sondern ein stilles Mitlauschen, Millisekunde für Millisekunde.

In diesen Mustern lassen sich bekannte Funktionsbereiche wiederfinden: Aufmerksamkeitslenkung, Inhibition, Emotionsbedeutung. Bestimmte Wellen – etwa die P3, die auf relevante Zielreize anspringt, oder das Late Positive Potential (LPP), das anzeigt, wie stark uns emotionale Inhalte „packen“ – verändern sich, wenn Therapie greift. Das heißt nicht, dass wir den Menschen plötzlich „im Labor“ erklären könnten. Aber wir erhalten eine zweite Perspektive, eine, die nicht durch Tagesform, Scham oder höfliche Zurückhaltung gefärbt ist. Und gerade für Betroffene, die oft gelernt haben, ihre Belastung kleinzureden, kann es entlastend sein, wenn der Bildschirm nüchtern spiegelt: Da ist etwas — und es bewegt sich.

Chancen für eine queer‑affirmative Traumatologie

Warum setze ich mich dafür ein, ERPs in der Versorgung queerer Menschen sichtbarer zu machen? Weil Minderheitenstress, Ausgrenzung und Gewalt nicht nur Geschichten sind, sondern Spuren in Nervensystemen hinterlassen. Unser neurobiologisch informierter Ansatz – stark geprägt von der Idee, dass „der Körper die Geschichte bewahrt“ – verbindet Bottom‑up‑Regulation (Atmung, Erdung, Interozeption) mit Top‑down‑Verstehen (Sinn, Sprache, Einordnung). ERPs schlagen genau hier die Brücke: Sie zeigen, ob das innere Alarmsystem seltener „losgeht“, ob Aufmerksamkeit sich wieder auf das Wesentliche richten lässt, ob emotionale Reize weniger übermächtig werden.

In der Praxis kann das so aussehen: Eine nichtbinäre Person, nennen wir sie Alex, berichtet von ständiger Wachsamkeit, von Nächten, in denen jedes Geräusch eine mögliche Bedrohung bedeutet. Zu Beginn der Behandlung reagiert Alex’ Gehirn im ERP auf nebensächliche Reize überdeutlich; Zielreize gehen eher „unter“. Wochen später – nach Stabilisierung, nach sicheren Beziehungserfahrungen in der Therapie, nach Übungen für Körperwahrnehmung und Atem – verschiebt sich das Bild: Zielreize werden klarer markiert, Ablenker verlieren an Macht, emotionale Bilder lösen weniger Übersteuerung aus. Das sind keine Noten für „richtige“ Gefühle. Es sind Prozess‑Signaturen, die mit dem Erleben zusammenpassen und Fortschritt greifbar machen.

Für viele queere Patient*innen ist dies mehr als Diagnostik. Es ist ein Stück Rückgewinnung von Selbstwirksamkeit: „Mein Körper kann wieder unterscheiden, was jetzt wichtig ist – und was nicht.“ Wenn wir solche Daten behutsam rückmelden, in verständlicher Sprache und ohne Pathologisierung, stärken wir genau das, worauf Heilung baut: Sicherheit, Wahlfreiheit, Verbundenheit.

Bedenken ernst nehmen – verantwortungsvoll einsetzen

Natürlich: Wo neue Verfahren Hoffnung wecken, entstehen auch Zweifel. Ist das zuverlässig genug? Macht Technik die Beziehung kalt? Werden Menschen auf Kurven reduziert? Diese Fragen nehme ich sehr ernst. ERPs sind keine Diagnosen in Kurvenform, sondern Momentaufnahmen von Verarbeitung. Ihre Aussagekraft wächst, wenn wir sie seriös standardisieren: saubere Aufgaben, klare Zeitpunkte im Verlauf, kurze Sitzungen, die nicht überfordern, und vor allem ein traumasensibles Setting. Dazu gehören Einverständnis auf Augenhöhe, Abbruchmöglichkeiten, eine achtsame Stimuluswahl ohne unnötige Trigger, und eine Rückmeldung, die Kontext und Lebensrealität einbezieht – insbesondere Erfahrungen von Diskriminierung und Gatekeeping.

Zuverlässigkeit ist erarbeitbar: Wer mit offenen Augen artefaktanfällige Segmente aussortiert, genügend Beobachtungen sammelt und immer wieder die gleichen, schlanken Protokolle verwendet, erhält stabile Vergleichswerte. Und zur Sorge, Technik könne Nähe ersetzen: In meiner Erfahrung passiert das Gegenteil, wenn wir es richtig machen. Weil wir das, was Patient*innen fühlen, ernst nehmen und zusätzlich mit einem objektiven Blickwinkel würdigen, vertieft sich die therapeutische Allianz. Nicht das Gerät spricht das letzte Wort – die Person tut es.

Ein Blick aus der Praxis

Ich arbeite gern mit einem „Mikro‑Protokoll“, das sich in eine normale Sitzung integrieren lässt: eine kurze Aufmerksamkeitsaufgabe, eine vorsichtige Bildbetrachtung, später – wenn genügend Sicherheit entstanden ist – ein Go/NoGo‑Block, der Impulskontrolle abbildet. Vor der Therapie, in der Mitte und am Ende entstehen so drei kleine Fenster, durch die wir schauen können. Manchmal sind es die kleinen Verschiebungen, die Mut machen: eine langsamere, aber deutlichere Markierung von Zielreizen; ein LPP, das bei negativen Reizen weniger überbordet; oder eine Fehlerreaktion, die nicht länger von Alarm dominiert wird, sondern von nüchterner Korrektur begleitet ist.

Solche Befunde lassen sich gut mit dem Erleben koppeln: „Mir fällt es leichter, beim Einkaufen nicht jedes Gespräch hinter mir zu scannen.“ – „Ich kann Nachrichten wieder selektiv lesen, ohne die Nacht wach zu liegen.“ Der Punkt ist nicht die perfekte Kurve, sondern die Übereinstimmung zwischen Daten, Gefühl und Alltag. Und ja: Manchmal zeigt das ERP auch, dass ein Ansatz gerade nicht greift. Dann ist das keine Niederlage, sondern ein Hinweis, die Intervention anzupassen – vielleicht mehr Stabilisierung, mehr Körperarbeit, eine andere Dosierung.

Ausblick

Ich wünsche mir eine Versorgung, in der queer‑affirmative Haltung und neurobiologische Präzision selbstverständlich zusammenfinden. ERPs sind dafür kein Allheilmittel, aber ein feinfühliges Instrument: bezahlbar, gut vermittelbar, nah an den Mechanismen, die wir ohnehin bearbeiten. Sie helfen uns, Veränderungen sichtbar zu machen, ohne das Erleben zu relativieren. Und sie erinnern uns daran, dass Heilung nicht nur eine Geschichte ist, die wir erzählen, sondern auch eine Regulation, die wir im Nervensystem wiederfinden.

Wenn Sie in Ihrer Praxis neugierig sind, beginnen Sie klein. Wählen Sie sichere, kurze Aufgaben. Holen Sie informierte Einwilligung ein. Besprechen Sie Befunde in Alltagssprache. Und behalten Sie immer das im Blick, worum es geht: Menschen, die nach schweren Erfahrungen ihren Takt neu finden.

Ich freue mich auf Ihre Rückmeldungen, auf Fragen, Einwände und Beispiele aus Ihrer Arbeit. Denn je besser wir gemeinsam verstehen, was sich im Verlauf verändert, desto gezielter können wir helfen – respektvoll, wirksam und mit einem offenen Ohr für das, was die Daten und die Menschen uns sagen.

 

Claudia Haupt

Präsidentin des EBGH

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