Unsere Themen

Unsere wissenschaftlichen Kernthemen sind Geschlecht, Gesundheit, Ethik und Beziehungsparadigma.

Dimensionen des Geschlechtslebens

Geschlecht ist einerseits ein extrem komplexes Feld, andererseits ein Thema, das jedem Menschen ganz persönlich unter die Haut geht, Geschlecht bedeutet nackt und verletzlich sein. Geschlecht ist eine elementare Tatsache. Im Alltag ist Geschlecht eine fulminante Realität, die das Leben jedes Menschen bestimmt; jeder Mensch ist geschlechtlich einzigartig. Daher ist Geschlecht vielfältig.

 

Nun steht Geschlecht nicht wie ein Denkmal statisch in der Landschaft, sondern ist recht lebendig, existiert als buntes, individuell einzigartiges Geschlechtsleben.

 

In der lebendigen Vielfalt und Einzigartigkeit lassen sich 4 grundlegende Dimensionen ausmachen.

Nämlich:

  • Erotik: Hierzu gehören Phänomene wie Lust, Leidenschaft, Orgasmen, Ekstase, Befriedigung usw.
  • Fürsorge: unter anderem Beziehungsqualitäten wie Wärme. Güte, sich kümmern um, Fürsorge, Pflege
  • Macht: Beziehungsqualitäten wie Führung, Herrschaft, Dominanz, Partnerschaft, Stärke, Überlegenheit
  • Gewalt: Einvernehmlichkeit, Zwang, physische, psychische, soziale, strukturelle Gewalt, Kraft
 

Träger des individuellen Geschlechts ist der lebendige Leib. Diese vier Bausteine werden leiblich als Lust, Wärme, Zufriedenheit, kurzum Geschlechtseuthymie, als Aspekt von Gesundheit,  erlebt.

Leib – geschlechtliche Existenz

Auf die Frage wer und was wir im Kern als Individuen sind, können verschiede Antworten gegeben werden. Zunächst sind wir Menschen, gute und weniger gute. Existenziell erleben wir uns geschlechtlich als Frau, Mann, Enbie, Kind, Mutter, Vater usw.

Realistisch gesehen sind wir schlicht und einfach lebendig, also Lebewesen, als lebend(ig)e Existenz, wir existieren als Körper, sind mehr oder minder geistvoll, glauben, dass wir eine Seele/Psyche haben und Beziehungen zu anderem Menschen zu unserer persönlichen Realität gehören.

 

Die Gesamtheit/Ganzheit unserer körperlichen, psychischen und sozialen lebendigen Existenz/Realität nennen wir Leib.

  • Wir erleben uns geschlechtsleiblich
  • existenziell als Mensch/Person (z-B. mit Geschlechtsinkongruenzen), Frau, Mann, queer, Two Spirits, Kathoy, Hijra, Fa’afine, Intersexed, Enbie usw. , also als Personen mit Geschlechtsvarianten
  • gesundheitsbezogen als geschlechtseuthym, verletzlich, geschlechtsinkongruent usw.
  • Der Geschlechtsleib ist Träger (oder Brücke) unser geschlechtsleiblichen Existenz und Gesundheit.

Alteritätsethische Orientierung

Wir kennen begrifflich auch eine Metadimension, die vier Basisdimensionen vorgeordnet ist, nämlich Alterität. Für uns steht nicht so sehr das Gemeinsame, das, worin wir uns gleichen, im Vordergrund, sondern  die Differenzen zwischen den Individuen. 

 

Unser alteritätsethisches Konzept bezieht sich vor allem auf das Werk des französisch-litauischen Philosophen Emmanuel Lévinas. In dessen Konzept steht der Andere, der Nächste, absolut im Vordergrund. Er geht nicht von autonomen, unabhängig handelnden Subjekten und deren Ego, Egoismus, Vorstellungen, Zielen und Zwecken aus, sondern vom absoluten Anspruch des Anderen, Nächsten, auf den wir immer schon auf irgendeine Weise antworten. Wir sind dem Anderen, Nächsten, in seiner Verletzlichkeit Güte schuldig, eben weil wir auch verletzlich und verletzt sind. Ähnlich wie der barmherzige Samariter sind wir die »Geisel« des verletzten Anderen, Nächsten, wir sind ihm in unserem Handeln absolut verantwortlich. Beim Konzept der Alterität geht es nicht um Selbstgefälligkeit, sondern um (je) meine absolute Verantwortung gegenüber dem Anderen. 

 

Unsere alteritätsethisch orientierte Praxis der geschlechtlichen Gesundheitsversorgung leitet ihre Humanität und Ethik aus zwischenmenschlichen Beziehungen her (Bennent-Vahle).

Beziehungsparadigma

Aus dem bisher gesagten wir klar: Geschlecht und Geschlechtsleben sind für uns keine fixen Strukturen oder Eigenschaften, sondern haben Beziehungscharakter. Erotik, Fürsorge, Macht und Gewalt sind geschlechtlich keine »Attribute«, sondern werden in Beziehungen gelebt, sie sind also »zwischen uns«. Auch der Leib hat sozialen Charakter. So gesehen sind Begriffe wie geschlechtliche Identität »asozial«, statisch und alles andere als lebendig.

 

Dies zeigt sich bei Individuen mit besonderen Geschlechtsvarianten wie z.B. Personen mit Geschlechtsinkongruenzen besonders eindrücklich.

 

Beispiel »Konstitutionelle Geschlechtsinkongruenz« (Cornelia Kunert), früher nannte man diese geschlechtsleiblichen Existenzmuster trans*, Transsexualität, Transgender, Enbie usw.: das persönliche Erleben ist geprägt durch ein geschlechtlich Anderes im eigenen Leib, dessen die Betroffenen gewahr werden und das zunehmend das eigene Ich »in Beschlag nimmt«, bis hin zur vollständigen Substitution des Ichs durch das geschlechtlich Andere in mir. So gesehen sind Transitionsprozesse Beziehungsgestaltung und -entwicklung zum Anderen in mir.

 

Oder ein anderes Beispiel geschlechtsleiblicher Inkongruenz: Frauen, die unter habituellem Abort leiden ( habituellen Abort wird das Auftreten von mehreren spontanen Fehlgeburten verstanden). Diese»Mütter ohne Kinder«, die ähnlich diskriminiert werden wie Menschen mit konstitutioneller Inkongruenz, nämlich als »fehlerhafte Frauen«, leiden still, voller Sehnsucht nach dem Anderen in ihr, das verloren wurde und Verletzungen hinterlässt.

 

Noch ein Beispiel: Männer mit »erektilen Dysfunktionen«, als »Versager« diskriminiert und tabuisiert, denen Deutungen wie z.B. »Mutterfixierung« und »unbewusste Homosexualität« unterstellt werden, leiden unter dem Verlust der erotischen Beziehung zum Anderen/zur Anderen, die eigene geschlechtliche Leiblichkeit wird als unstimmig (inkongruent) erlebt, sie werden einer Sehnsucht nach dem Anderen in ihrem Geschlechtsleib gewahr, nach liebevoller Lust, die unerreichbar scheint und stilles Leiden befördert, ein Körperteil (Penis) wird als befremdlich erlebt und ist mit Verzweiflung verbunden.

 

Fazit: Das Beziehungsparadigma erweist sich als ausserordentlich hilfreich, um geschlechtliche Inkongruenzen zu verstehen.